Jetzt benimm dich mal anständig….

oder: Setz dich anständig hin

oder: zieh dir was Anständiges ans

oder: hast du keinen Funken Anstand im Leib

oder, oder, oder…

kommen euch solche Aussagen bekannt vor? Wenn ihr so in meinem Alter seid, wahrscheinlich schon. Wer hat solche oder ähnliche Aufforderungen oder Tadel nicht auch mal gehört in seiner Kindheit und Jugend?

Heute klingen solche Sätze verstaubt, veraltet, nicht mehr zeitgemäß bzw. aus der Zeit gefallen, die so etwas wie Anstand gar nicht mehr braucht (?), oder schon gar nicht mehr weiß, was das überhaupt bedeuten soll.

Nun, inspiriert mal wieder durch einen Essay in der „Zeit“ zu diesem Thema, möchte ich mich der Frage widmen, was Anstand ist, ob wir das heute noch brauchen, oder ob unsere Gesellschaft über so etwas wie Anstand hinausgewachsen ist und sich auf einem Level von Aufgeklärtheit befindet, dass niemand mehr in dieser Weise belehrt werden muss.

Zur Klärung des Begriffs bediene ich mich zunächst wieder einmal Wikipedia- wie schön, dass es das gibt, um sich schnell Informationen zu beschaffen. Wikipedia definiert also folgendermaßen:

  1. gute Umgangsform; gutes, höfliches Benehmen
  2. [2] Unterbrechung des Pirschganges

Zweite Definition aus dem Wortschatz der Jagd können wir links liegen lassen. Diesen Jägerhut setze ich mir nicht auf.

So ist es mir beigebracht worden, wenn ich die oben genannten Aussprüche meiner Eltern als Kind auch erstmal nicht unbedingt als höfliche Aufforderung zu höflichem Benehmen  aufgefasst habe, sondern als Kritik an meinem Benehmen und Verhalten. Als Aufforderung, mich irgendwelchen gesellschaftlichen Normen von gutem Benehmen unterzuordnen, die ich damals nicht unbedingt verstanden habe und deren Bedeutung sich mir auch erst später erschlossen haben. Schließlich hat mir damals niemand erklärt, was gutes Benehmen ist und warum. Es wurde etwas in den Raum gestellt, das ich, wie gesagt, in erster Linie als Kritik an meiner Person aufgefasst habe, denn ich wurde auch nicht gefragt, wie es mir damit geht.

Ein Beispiel: Ich wurde von meinen Eltern quasi dazu gezwungen, unsere Nachbarin zu grüßen, obwohl sie mir nach meiner Meinung nicht wohlgesonnen war und ich regelrecht Angst vor ihr hatte. Aber es gehörte sich nun mal, sie zu grüßen. Oder ich bekam bei Spaziergängen einen Knüppel unter meine Arme hinter den Rücken geklemmt, damit ich endlich gerade gehe.

lm Nachhinein verstehe ich natürlich, worum es meinen Eltern ging: Höflichkeit gegenüber anderen Menschen und mich zu einem „aufrechten“ Menschen zu erziehen. Die Methode und der Hinweis auf anständiges Benehmen halfen mir dabei allerdings nicht. Es war die autoritäre Anordnung der Eltern, die mir die Einsicht versperrten.

Was ich nun heutzutage beobachte, ist eine zunehmende Gleichgültigkeit in Bezug auf gutes Benehmen gegenüber meinen Mitmenschen, wenn nicht sogar oft eine regelrechte Verrohung im Umgang. Ich erinnere mich an einen Vorfall von vor dreißig Jahren, als ich hochschwanger mit zu früh einsetzenden Wehen mit dem Auto von der Autobahn herunterfuhr  als Rechtsabbieger. Mir kam ein Wagen  entgegen als Linksabbieger. Er nahm mir die Vorfahrt nahm und mich in Bedrängnis brachte. Ich bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln, dass ich sein Benehmen bzw. sein verkehrswidriges Verhalten mißbilligte (es sei darauf hingewiesen, dass ich nicht den berühmten Finger zeigte). Der Fahrer folgte mir daraufhin (auf der zweispurigen Straße) bis zu meiner Wohnung. Als ich dort angekommen ausstieg, beleidigte er mich und meinen Zustand auf das Übelste und ich bekam es regelrecht mit der Angst zu tun. Schließlich konnte ich nicht mehr abschätzen, ob er nicht auch noch tätlich werden würde. Ich habe diesen Vorfall nie vergessen, weil ich die Situation als sehr bedrohlich empfand und ihr auch wehrlos gegenüber stand. Das liegt lange zurück, aber ich höre immer wieder von solchen Ausfällen und Beleidigungen schon bei den geringsten Anlässen. Von den sogenannten shitstorms im Internet ganz zu schweigen. Der Autor des Zeitartikels berichtete von einem Vorfall an einem Fußgängerüberweg, an dem die Ampel auf grün stand und eine Frau mit zwei Kindern die Straße überqueren wollte. Ein Fahrer im Sportwagen schnitt ihr fast den Weg ab und als die Frau auf die grüne Ampel zeigte, kurbelte der Mann das Fenster hinunter und beschimpfte sie mit „Halt’s Maul,  Schlampe“! So, ob man den Begriff Anstand veraltet findet oder nicht, diesem Herrn fehlt es an jeglichem Anstand, oder wie immer man das nennen mag. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der ein derartiges Verhalten zur Regel wird?

Zunächst mal glaube ich, dass es für das gedeihliche Zusammenleben notwendig ist, dass eine Gesellschaft für sich Regeln definiert, die diese Zusammenleben ermöglichen. Dazu gehören für mich neben der Anerkennung der Gesetze auch bestimmte Verhaltensregeln, und damit meine ich in erster Linie den Respekt gegenüber meinen Mitmenschen. Respekt heißt Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit, auch mal das Zurücknehmen der eigenen Bedürfnisse z. B., dass ich älteren Menschen den Sitzplatz im Bus überlasse (jetzt bin ich ja auch schon älter und ich freue mich, wenn Schüler mir ihren Platz überlassen, auch wenn sie selbst von der Schule erschöpft sind). Es ist auch nicht schädlich zu wissen, wie man sich bei Tisch verhält. Wir möchten doch für unser Gegenüber (und für uns selbst denke ich doch auch) angenehm im Umgang sein. Heute ist es für mich selbstverständlich, dass ich meine Nachbarn freundlich grüße, sie anlächle oder ein Wort mit ihnen wechsle. Wenn mir natürlich jemand unfreundlich begegne, reagiere ich entsprechend. Kurzum, Kulturtechniken dienen dazu, eine gewisse Sicherheit im Umgang miteinander zu schaffen. Wenn Flüchtlinge aus anderen Kulturkreisen unterschiedliche Kulturtechniken mitbringen, gehört das gegenseitige Kennenlernen und Respektieren zu den ersten Schritten für eine Verständigung.

Gesten wie das freundliche Grüßen oder das Tür aufhalten öffnen auch im übertragenen Sinne Türen und erleichtern das Leben für alle Beteiligten. So habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, meine Arbeitskollegen bei meiner Ankunft morgens im Büro mit ihrem Namen zu begrüßen. Ich freue mich, wenn man mich mit meinem Namen anspricht und mir damit bedeutet, dass man mich bewusst wahrgenommen hat, und so geht es meinem Gegenüber wahrscheinlich auch.

„Anständiges“ oder unanständiges Benehmen kann nun aber auch dazu benutzt werden, sich von anderen Menschen abzugrenzen, die sich scheinbar oder nach bestimmten Maßstäben höherer Gesellschaftsschichten nicht anständig benehmen und somit herabgewürdigt werden. Das finde ich nun wieder nicht anständig.

Ja, in der Tat, ein weites Feld.

Anstand heißt für mich persönlich noch mehr. Mehr als die Respektierung oberflächlicher Verhaltensregeln, die erstmal das Zusammenleben erleichtern. Anstand heißt für mich, dass ich mich anderen Menschen gegenüber respektvoll verhalte in dem Sinne, dass ich sie nicht beleidige, nicht herabwürdige, dass ich aufrichtig bin und man sich auf mein Wort verlassen kann. Aber auch Verständnis dafür, dass sie sich in schwierigen Situationen vielleicht nicht immer so verhalten, wie ich mir das wünsche, dass sie vielleicht manchmal vor lauter Sorgen gerade nicht offen und freundlich sein können, dass sie auch mal eine Verabredung absagen, wenn es ihnen nicht gut geht. Das würde ich für mich ebenfalls in Anspruch nehmen wollen. Aber wie gesagt: unter normalen Umständen sollte das Wort gelten, denn worauf kann ich mich sonst noch verlassen. Und was ich auch noch wichtig finde: dass ich dazu stehe, wenn ich einen Fehler begangen habe. Menschen begehen Fehler, Menschen lernen aus Fehlern (sollten sie jedenfalls!), Menschen dürfen Fehler begehen, ohne dass sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Zum Menschsein gehört auch das Verzeihen von Fehlern, die Nachsicht mit dem Unvollkommenen in uns allen! Auch das sind zwei Seiten des Anstandes.

Und jetzt noch ein Wort zu Politik. Wahrscheinlich kann man von Politikern nicht verlangen, dass sie immer aufrichtig sind, gerade in der internationalen Politik geht es vermutlich eher um die richtige Taktik im Umgang miteinander als um Aufrichtigkeit. Glaubwürdigkeit gibt es nach meinem Eindruck kaum noch. Deshalb sind wahrscheinlich auch so viele Menschen Politik-verdrossen. Mal sehen, was aus den ganzen Versprechungen vor der Wahl wird! Darauf will ich jetzt aber nicht auch noch eingehen, obwohl das (unanständige) Verhalten der Politiker oder Wirtschaftsleute  sich natürlich auch auf die Bevölkerung auswirken, da sollen sich die Politiker mal nicht aus der Verantwortung ziehen! Nach dem Motto „Wenn die da oben sich nicht an ihre Versprechungen halten, warum soll ich das tun“. Kann man so sehen, kann für mich persönlich keine Entschuldigung dafür sein, dass ich mich unanständig, d. h. schlimmstenfalls rechtswidrig oder in anderer Weise missachtend verhalte.

Ich bin für mich und mein Verhalten ganz persönlich verantwortlich.

 

 

 

 

 

 

 

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