Lange Zeit verdrängen wir es. Ich spreche einfach in der Wir-Form, da ich mir nicht vorstellen kann, dass es euch anders geht als mir. Wir sind mit allem anderen beschäftigt, was uns das Leben abfordert oder natürlich auch an schönen Seiten bietet. Und doch werden wir schon früh mit der Endlichkeit allen Lebens konfrontiert, wenn z.B. unsere Großeltern sterben. Wir verstehen noch nicht wirklich – behaupte ich aus heutiger Sicht – was das bedeutet und warum das so ist. Unsere Eltern trösten uns mit dem Hinweis, dass der Opa oder die Oma jetzt im Himmel sind und es ihnen dort gut geht. Mich hat der Tod meiner Großeltern damals schon trotz der Tröstungen der Eltern aus der Bahn geworfen, aber weder mir noch meinen Eltern war wahrscheinlich klar, was der Grund für meine Schlafstörungen und Ängste war.
Viel Zeit ist seither ins Land gegangen mit den besagten anderen Aufgaben, die sich zwischen mich und den Tod stellten. Und das war auch gut so, behaupte ich.
Vor acht Jahren brach die Erkenntnis der Endlichkeit dann endgültig und brachial in mein Leben ein durch den Tod meines Mannes. Ich besaß noch keine Mechanismen, damit umzugehen. Es gab auch gar keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Die Ereignisse verlangten nach Bewältigung. Nicht, dass ich mich darum gerissen hätte, aber es war nun mal so und im Nachhinein geschah das Notwendige und die Anerkenntnis, dass es so ist, wie es ist. Und es hat meinen Blick auf das Leben verändert und mich demütiger gemacht.
Klar, der Tod gehört zum Leben dazu, heißt es immer. Das ist richtig und im Sinne eines Fortbestehens und sich Erneuerns des Lebens unabdingbar. Aber dann denke ich manchmal, er könnte mich vielleicht von der Regel ausnehmen. Ich bin noch ganz gerne hier! Leider weiß ich, dass es in dieser Hinsicht keine Ausnahmen gibt, und bei Lichte betrachtet macht es auch keinen Sinn weiterzuleben, wenn alle Menschen um dich herum das Zeitliche segnen. Alles logisch, trotzdem schwer zu ertragen, dass es irgendwann – und dieses irgendwann rückt unweigerlich immer näher – auch für mich zu Ende sein wird.
Und die Einschläge kommen immer näher. So sagt es der Volksmund. Schauspieler, die mich mit ihren Rollen fast ein ganzes Leben begleitet, erfreut und berührt haben, sterben dahin (gerade eben Jan Fedder), KollegInnen, NachbarInnen, Bekannte. Das ganze Leben ist ein Abschiednehmen. Wir hören das nicht gerne, aber es ist so. Mancher Abschied hat sich indes als segensreich und (über-)lebenswichtig erwiesen als erster Schritt in eine neue Richtung. Aber wohin geht es jetzt? Im Alter?
Ich muss zugeben, dass es mir auf Anhieb schwer fällt, dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen. Und letztlich ist es doch so: da hast du dich durch alle Phasen des Lebens mehr oder weniger erfolgreich gekämpft. Nein, das kann, darf und muss man durchaus als Erfolg werten. Du hast viele Erfahrungen in jeder Richtung gemacht und hast dich bestenfalls schließlich selbst gefunden und weißt, wie der Hase läuft und dann Puff – und alles ist vorbei. Nichts bleibt von alledem. Deine Habseligkeiten werden zusammengekehrt und dann war es das. Was ist die Schlussfolgerung aus alledem?
Ich weiß es nicht! Punkt!
Nun hat mal ein recht kluger Mann gesagt: Man versetze sich in die letzten Stunden seines Lebens und frage sich: Habe ich all das verwirklicht, was mir wichtig war? Habe ich mich so verhalten, wie ich es mir mal vorgenommen hatte, so dass ich die Welt jetzt in Ruhe verlassen kann? Man könnte mir antworten, dass das alles egal ist, wenn danach sowieso nichts mehr kommt. Nebenbei bemerkt: manche Menschen verhalten sich tatsächlich nach dem Motto „nach mir die Sintflut“. Aber erstens wissen wir ja nicht, ob da noch was kommt, ob wir nicht doch zur Rechenschaft gezogen werden. Aber allemal müssen wir vor uns selbst am Ende Rechenschaft über das ablegen, was wir auf der Erde getan oder unterlassen haben. Das ist für mich auf jeden Fall ein Kriterium über den Sinn meines Lebens und insofern ist die Idee, sich einmal ans Ende des eigenen Lebens zu denken und sich die o.g. Fragen zu stellen, durchaus sinnvoll (wie der Begriff schon sagt).
Und ich gehe mal davon aus, dass dieses Gedankenspiel Folgen haben wird derart, dass durchaus und höchstwahrscheinlich Gedanken hochkommen, die wir vielleicht lange, lange Zeit verdrängt haben. Gedanken oder Plände oder Vorstellungen, die wir vor langer Zeit gehabt haben und die dann durch den Lauf des Lebens verloren gegangen sind oder auch unterdrückt wurden. Für mich ist es auf der einen Seite die Frage, ob ich meinen „Werten“ – und ich finde, diese Frage ist heutzutage bedeutsamer denn je – treu oder mir/anderen etwas schuldig geblieben bin. Man denke nur an die Bewegung „Fridays for future“, die uns Erwachsene massiv mit der Frage konfrontiert, was wir getan bzw. unterlassen haben, um diese Welt für unsere Kinder zu erhalten. Denn schließlich – und da wird deutlich, dass wir nicht nur für uns selbst verantwortlich sind – ist es unsere Aufgabe, wenn es denn eine für alle verbindliche gibt – unseren Kindern oder allgemein den nachfolgenden Generationen einen noch lebenswerte Erde zu hinterlassen. Ob das noch gelingt, naja? Aber der Ansatz ist, denke ich, klar.
Ich habe gerade das Buch „Solange es leicht ist“ von Hermann van Veen zu Ende gelesen und darin Sätze gelesen, die mich tief berührt haben in ihrer Einfachheit
„Burn-out, Depression und Selbstmordgedanken kann man am besten mit einer Gute-Taten-Kur bekämpfen. Jetzt erhältlich in deinem Inneren…Geht’s dir dreckig, brennt dir eine Sicherung durch, willst du jeden, der anders ist, aus dem Land schmeißen, vom Dach runterspringen, jemandem die Kehle durchschneiden? Dann hilf einem anderen und damit dir selbst“ (S. 154/155).
Ich weiß, so dramatische Zustände wie eine echte Depression oder Burn-out kann man vermutlich nicht so einfach heilen, aber die Gedanken auch mal weglenken von sich selbst auf die, denen es schlechter geht oder ganz einfach auf die Mitmenschen und ihnen zu helfen oder eine Freude zu bereiten, kann so viel Freude auf beiden Seiten kreieren.
So ist es mir mit meiner ehemaligen Nachbarin gegangen:
Vor etwas mehr als einem Jahr kam sie, Frau R., mit 96 Jahren ins Altersheim. Wir haben über die Jahre nie besonders viel Kontakt gehabt. Guten Tag und guten Weg. Als sie älter wurde, änderte sich das. Ihre nächsten Verwandten verstarben über die Jahre, so dass am Ende kaum noch jemand übrig blieb und Frau R. manchmal offensichtlich einsam war (vielleicht stand sie auch schon mal hinter der Tür, wenn sie hörte, dass jemand die Treppe herunter kam) und suchte ein kurzes Gespräch. „Ich muss ganz ehrlich sagen“ klingt es noch in meinem Ohr. So leitete sie gerne ihre Erzählungen von früher ein. Frau R. war bodenständig, immer freundlich und lief und lief und lief über die Jahre ihre Kilometer zu Fuss. Sicher ein Grund, warum sie so alt geworden war. Dann vor einem Jahr ging es plötzlich nicht mehr. Die Augen waren schlecht geworden. Sie fiel immer wieder hin und kam Knall auf Fall ins Altersheim.
Ich besuchte sie sporadisch und musste feststellen, dass sie – wie man landläufig sagt – nachließ. Laufen konnte sie allein nicht mehr und das Altersheim sah es sicherlich auch gerne, dass sie im Rollstuhl blieb. Die Sprache wurde undeutlicher und bei meinem letzten Besuch hatte ich Mühe, ihrem Erzählfluss noch zu folgen. Aber sie schien zufrieden. Sie war eh nicht der Typ, der sich beklagte. Sie fühlte sich gut behandelt. Trotzdem haderte sie damit, dass sie ihr Zuhause verloren hatte. Das ist auch ganz „normal“. Aber sie freute sich jedes mal so sehr, wenn ich kam. Wie gesagt, wir hatten bis dahin kein besonders enges Verhältnis gehabt, aber sie freute sich und ich nahm sie in den Arm. Das waren auch für mich ergreifende Momente!
Nun, kurz vor Weihnachten wollte ich sie wieder besuchen. Als ich ins Altersheim eintrat, war mir wie immer etwas mulmig. Es ist jedes Mal, als träte man in eine eigene Welt ein, eine in sich abgeschlossene Welt. Und man weiß nie, was auf einen zukommt.
Ich ging zu „ihrem“ Zimmer und spürte, dass etwas passiert war. Die Tür war nicht geschlossen. Ein um die Klinke gewickeltes Tuch verhinderte das Zuschlagen und sollte offensichtlich ermöglichen, die Bewohnerin im Auge zu behalten. Und dann fiel mein Blick auf das Namensschild: Dort stand ein anderer Name! Ich hatte damit rechnen müssen, aber das es nun soweit war, machte mich doch beklommen. Die Schwester berichtete mir, dass Fr. R. schon vor einem Monat friedlich eingeschlafen sei. Sie habe wohl gespürt, dass es zu Ende ging und immer wieder gesagt, dass sie ein schönes Leben gehabt hatte.
Im Nachhinein habe ich gedacht, warum ich sie nicht öfter besucht hatte! Ja, es hätte mich keine Mühe gekostet und ich hätte ihr (und mir natürlich auch) eine große Freude bereitet. Also, bevor es dazu kommt … hätte, hätte, Fahrradkette… .lieber gleich handeln.